Einer vietnamesischen Zigarettenverkäuferin

Hanns Graaf

Kühler Morgen. Grau wie Asche
Stehst du an des Marktes Rand
Mit der Zigarettentasche,
Schachteln in der kalten Hand.

Fragen dich nach Preis und Sorte.
Maskenlächeln. Geld zurück.
Ganze Stangen. Halbe Worte.
Kleiner Handel. Kleines Glück.

Land des Sonnenaufgangs ferne,
Weiter als ein Vogelflug.
Fast verraucht, verglüht wie Sterne,
Wie ein Zigarettenzug.

Zählst die Kunden und die Stunden.
Deine Blicke voller Angst.
Eine Streife zieht die Runden
Und du weißt, worum du bangst.

Hinter dem Gardinengitter
Spüre ich es heiß im Bauch.
Auf der Zunge schmeckt es bitter
Mir, obwohl ich gar nicht rauch.

Jeder Markt ist eine Falle.
Leben hat den kleinsten Preis.
Siehst nicht, wie die Faust ich balle,
Bis die Knöchel werden weiß.

Zur Losung der Verstaatlichung

Hanns Graaf

Bei einigen linken Organisationen spielt die Losung der Verstaatlichung eine wichtige Rolle. Bei der Gruppe Arbeitermacht (GAM) z.B. taucht die Verstaatlichungs-Forderung oft mit den Zusätzen „entschädigungslos“ und „unter Arbeiterkontrolle“ auf. Hier nur ein Beispiel dazu: in der Arbeitermacht-Infomail Nr. 709 heißt es zum Konflikt bei Norgren: „Betriebe, die entlassen oder mit Entlassungen drohen, müssen entschädigungslos enteignet und unter Kontrolle der Beschäftigten verstaatlicht werden!“ Im GAM-Aktionsprogramm von 2012 heißt es im selben Sinn: „Streiks und Besetzungen im Kampf gegen Massenentlassungen und Betriebsschließungen! Entschädigungslose Verstaatlichung und Fortführung der Produktion solcher Firmen!“

Die GAM glaubt sich dabei in Übereinstimmung mit Geist und Text des 1938 von Trotzki verfassten und von der IV. Internationale angenommenen Programms, des „Übergangsprogramms“ – zumindest macht sie nirgends deutlich, dass sie bewusst von den dortigen Positionen Trotzkis in dieser Frage abweicht. „Zur Losung der Verstaatlichung“ weiterlesen

Vorwärts, es geht zurück!

Die Energiewende im historischen Kontext

Hanns Graaf

Um aktuelle Entwicklungen, ob allgemein in der Gesellschaft oder im speziellen Bereich der Technik, beurteilen zu können, sollten wir sie in ihrem historischen Zusammenhang betrachten. Wir wollen dies hier für den Bereich der Energietechnik tun. Dies ist schon deshalb notwendig, weil derzeit speziell in Deutschland mit der Politik der „Energiewende“ (EW) etwa seit der Jahrhundertwende eine massive Umstrukturierung des Energiesektors vonstatten geht. Sie wurde insbesondere von der rot/grünen Schröder-Regierung vorangetrieben und von allen Folgeregierungen unter Merkel weitergeführt. Obwohl es Modifizierungen gab, die auch Ausdruck der zunehmenden Probleme mit der Ausweitung der „Erneuerbaren Energien“ (EE) sind, wurde der grundlegende Trend der EW beibehalten. „Vorwärts, es geht zurück!“ weiterlesen

Revolte im Gemüsebeet

Eine Kritik an „Der kommende Aufstand“

Hannes Hohn
(zuerst erschienen in: Revolutionärer Marxismus 43, Verlag global red, Oktober 2011)

Anfang 2011 sorgte die deutsche Übersetzung der Broschüre „Der kommende Aufstand“ für Furore. Per Internet und Kopierer verbreitete sich das Pamphlet in der linken und alternativen Szene wie ein Lauffeuer. Selbst im bürgerlichen Feuilleton wurde es breit behandelt. Schon in Frankreich, woher die Autoren (die anonym bleiben und sich „Unsichtbares Komitee“ nennen) stammen, verbreitete sich das Büchlein, das dort 2007 unter dem Titel „L´insurrection qui vient“ erschien, rasend schnell. „Revolte im Gemüsebeet“ weiterlesen

Fundstück III

Vergesst nicht, dass diejenigen Menschen euch am besten dienen werden, die ihr aus eurer eigenen Mitte wählen werdet, die das gleiche Leben wie ihr führen und die gleichen Leiden ertragen wie ihr (…) Vermeidet vom Schicksal Begünstigte, denn selten nur will derjenige, der ein Vermögen besitzt, im Arbeitenden seinen Bruder sehen. Wählt eher diejenigen, die sich um eure Stimmen nicht bewerben; der wahre Verdienst ist bescheiden, und es ist Sache der Wähler, ihre Kandidaten zu kennen, und nicht der Kandidaten, sich erst vorzustellen.

Aus dem Aufruf des ZK der Nationalgarde der Pariser Kommune vom 25.3.1871 am Vorabend der Wahlen.

Ein dreiviertel Jahrhundert für vier Quadratmeter

Die Wohnungsfrage in der UdSSR

Hanns Graaf

Sofort nach der Oktoberrevolution gingen die Bolschewiki daran, die Wohnsituation der werktätigen Massen, v.a. des Proletariats zu verbessern. Ohne dass es zunächst offizielle Beschlüsse gab, wurden reiche Wohnungseigentümer enteignet, die Wohnungen ArbeiterInnen übergeben oder sie dort einquartiert. Die bourgeoisen Eigentümer mussten die Wohnungen oft innerhalb 24 Stunden räumen. Von der Einrichtung durfte nichts, von der Kleidung nur wenig mitgenommen werden. Mitunter wurde das Nutzungsrecht der ehemaligen Wohnungsinhaber auf ein oder zwei Zimmer in ihrer eigenen Wohnung beschränkt. „Ein dreiviertel Jahrhundert für vier Quadratmeter“ weiterlesen

Austreibung Trotzkis

Hanns Graaf

I

Was noch
Gilt der Ausgewiesne, der
Prophet dem weitren
Russland?

Postenwechsel an der
Frostverworfnen
Strecke. Unterm
Schnee stockt das
Oktoberlaub.

An der Böschung
Wachsen Reste von
Konserven. Drum
Schmarotzer raufen sich:
Die Krähen. Im Dickicht
Schnürt abseits der
Rotfuchs.

Um nicht
Einzufrieren,
Dampft die Rostlok
Hin und her
Auf totem
Gleis.

Frostzerknirschte
Wachen draußen. Drinnen
Lew, mit Grippe, spielt alleine
Schach.

Moskau bringt sich um
Die Türme. Bauernopfer.
Winkelzüge, die
Rochaden.

Draußen
Donnert es: Mein
Panzerzug!
Ihm glüht der
Kopf. Kein Wasser? Ist auch das
Versiegt.

Und ich, in dem
Verdammten Zuge,
Ich bin nicht am
Zug!

II

An den Rand getrieben
Triffst Du mich,
Odessa,
Wieder.

Meine Schule.
Klassen, die ich
Durchging. Zirkelarbeit,
Das Theater. Einem
Zuckt die illegale
Hand zum Gruß.

ILJITSCH liegt
Vertäut. Da tönt die
Pfeife. Stalin lässt
Abdampfen. Abfuhr ins
Schwarzmeer
Vergessen.

Kalte Krim.
Erblasste Küste. Brüder,
Unser Land treibt
Ab.

Verschollne
Wogen. Hinter uns die
Rinne, wie sie
Zufriert!

Doch,
Wo immer ich
Hinfahre, fahre ich
Fort.

Anmerkung:

Im Januar 1929 wurde Leo Trotzki von Stalin des Landes verwiesen. Während man überlegte, wie seine Vertreibung ohne Aufsehen erfolgen könnte, wartete der Zug, der Trotzki nach Odessa brachte, auf der abgelegenen Station Rjaschk. Von Odessa, wo Trotzki seine Jugend verlebte, wurde er mit dem Dampfer ILJITSCH in die Türkei gebracht. Vgl. Trotzkis Autobiographie „Mein Leben“.