Wagenknechts Sicht auf Aufstehen

Hannah Behrendt / Hanns Graaf

Gibt es eigentlich Aufstehen noch? Nachdem die Bewegung vor etwa einem Jahr mit viel medialem Tamtam von Sahra Wagenknecht u.a. Prominenten aus der Taufe gehoben wurde, ist heute nicht mehr viel davon zu hören. Quasi anlässlich des ersten Jahrestages gab Wagenknecht am 26.8.19 der Berliner Zeitung ein Interview, in dem sie die Entwicklung von Aufstehen bilanziert und darauf eingeht, was die Probleme von Aufstehen sind und ob die Bewegung nicht überhaupt schon gescheitert ist.

Zunächst sorgt schon die Überschrift des Artikels für Erstaunen, denn Wagenknecht wird hier mit der These „Bisher ist Aufstehen an Selbstgefälligkeit gescheitert“ zitiert. Das suggeriert, dass Aufstehen selbst eine solche Haltung hätte. Der Autor ist selbst Mitglied von Aufstehen und hat von Selbstgefälligkeit dort noch nie etwas beobachtet – wie auch bei einer völlig neuen Bewegung, die bei Null anfing und vor einem Berg ungelöster Probleme steht?!

Zudem wird hier auch die Position Wagenknechts verdreht. Sie sagt nämlich vielmehr, dass „die Bewegung bisher tatsächlich an der Selbstgefälligkeit der führenden Parteipolitiker (Anm.: der Linken, der SPD und der Grünen) gescheitert“ sei. Das stimmt. Nur: hat Wagenknecht wirklich geglaubt, dass SPD und Grüne, denen jede wirkliche kämpferische und von der Basis kontrollierte Bewegung ein Graus ist (es sei denn, es geht um eine von oben bzw. außen gesteuerte Hüpf-Bewegung wie Fridays for Future), gerade Aufstehen unterstützen würde? Immerhin ist ja nicht ausgeschlossen – und wenn Aufstehen seine Aufgaben ernst nehmen würde, wäre das auch so -, dass die Politik dieser reformistischen bzw. reformerischen Parteien heftig hinterfragt und sie durch Basismobilisierungen unter Druck gesetzt würde. Doch die Blockadehaltung von SPD, Linkspartei und Grünen war nicht nur nicht entscheidend für die Probleme von Aufstehen, hätten sie Aufstehen unterstützt, wäre das nichts anderes als eine Vereinnahmung gewesen und hätte von vornherein jede Chance auf eine andere Politik und einen anderen Charakter von Aufstehen in einem reformistischen Amalgam enden lassen.

Die Ursachen der Probleme

Von linken KritikerInnen wurde bemängelt, dass Aufstehen ein Top down-Projekt sei. Das ist es auch. Doch wie sollte es anders sein? Eine Basisbewegung irgendeiner Art gab es nicht, sehr wohl aber ein Milieu, das mit der gesellschaftlichen Entwicklung und der Situation des „linken Lagers“, v.a. der SPD, aber auch der Linkspartei, unzufrieden war. Das haben Wagenknecht und Co. richtig erkannt und die große Resonanz auf Aufstehen mit 170.000 InteressentInnen zu Beginn hat das auch bestätigt. Man kann den InitiatorInnen insofern keinen Vorwurf machen – im Gegenteil: man fragt sich, warum die „radikale Linke“ ihrerseits die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat?

Natürlich hätte das Top down überwunden werden müssen, indem die Basisstrukturen systematisch aufgebaut, vernetzt und eine demokratisch legitimierte Bundesstruktur geschaffen worden wäre. Doch das erfolgte nicht und war auch gar nicht vorgesehen, zumindest war man völlig außerstande, diesen Prozess voran zu bringen. Dafür sprechen allein schon zwei Tatsachen: 1. wurde es versäumt, die InteressentInnen zu kontaktieren und regional und örtlich zuzuordnen. Bis heute sind mails von vielen Tausenden InteressentInnen unbeantwortet. Diese Zuordnung technisch zu organisieren ist heutzutage einfach und jeder einigermaßen fitte Abiturient ist in der Lage, eine entsprechende Software dafür zu nutzen. 2. wurde ein (tw. anonymer) Trägerverein installiert, der die Adressverwaltung, die Gelder, die Homepage nach „Gutsherrenart“ kontrollierte. Das war von Beginn an eine Entmachtung bzw. Unterordnung der Mitgliedschaft unter eine informelle Clique. Diese zerstritt sich dazu auch noch sofort, u.a. über die Frage, ob Aufstehen eine Partei sein oder werden sollte. Das bestätigt auch Wagenknecht: „Der eigentliche Konflikt bestand zwischen denen, die aus Aufstehen eine Partei machen wollten, und denen, die das nicht wollten. Ich wollte keine weitere Aufsplitterung des linken Lagers.“ Diese Aussage provoziert die Frage, was eigentlich die gemeinsame Grundlage der InitiatorInnen war? Offenbar war nur eines klar: dass nichts klar war. Wagenknechts Aussage verweist aber auch auf die Absurdität der Position all jener linken Kritiker von Aufstehen, die meinten, Wagenknecht wolle die Linkspartei spalten.

Ein Jahr nach seinem Beginn verfügt Aufstehen immer noch nicht über funktionierende Strukturen auf Landes- oder gar Bundesebene. Die Rolle des „Trägervereins“ bzw. einiger InitiatorInnen besteht lediglich darin, alle paar Wochen eine mail zu versenden, die zur Teilnahme an einer Demo aufruft. Zu – allen – wesentlichen Frage der Gesellschaft und des Klassenkampfes (u.a. Mieterbewegung, Industrie 4.0, Klima, Energiewende, Migration usw.) gibt es weder klare inhaltliche Statements und Analysen noch etwa ein Konzept, was praktisch zu tun sei. Diese inhaltliche „Leere“ rührt aber schon aus dem Gründungsaufruf, der ein allgemeines reformerisches Wunschkonzert a la Linkspartei ist, wesentliche Fragen (z.B. Arbeiterklasse, Gewerkschaften) gar nicht benennt und die Systemfrage komplett ausklammert. Nun mag man mit einer solchen „allgemeinen“ Plattform beginnen – doch zu glauben, mit solch einem inhaltlichen Wischiwaschi könne eine Bewegung aufgebaut werden, ist mehr als naiv. Seit wann ist Unklarheit ein Vorteil?!

Geradezu grotesk ist angesichts dessen die Idee eines Regierungsprogramms für Aufstehen. Selbst davon existiert bis heute nur eine Präambel, die so nichtssagend ist wie der Gründungsaufruf. In keiner einzigen Frage hat Aufstehen eine klare Position, von einer klaren Taktik ganz zu schweigen. Allein das beweist, wie geradezu erbärmlich es um die politischen und Führungsfähigkeiten der Initiatorengruppe und des „Trägervereins“ bestellt ist. Für eine Partei, noch dazu eine neue, ist solche Oberflächlichkeit sowieso unbrauchbar, doch selbst eine Bewegung, die eine Art Einheitsfront wäre, benötigt so etwas wie einen Aktionsplan, klare Ziele und zentrale Kampagnen, mit denen man Menschen anziehen, mobilisieren und in Aufstehen organisieren kann.

Aufstehen von „oben“

Drei Beispiele sollen zeigen, wie „clever“ Wagenknecht und Co. dabei sind. Als die Unteilbar-Bewegung gegen Rassismus Zehntausende mobilisierte, mokierte sich Wagenknecht über die Losung der „Offenen Grenzen“, obwohl das weder die zentrale Frage noch überhaupt die Position von Unteilbar, das ja ein Bündnis ist, war. Diese grobe politische Dummheit (die von den meisten AufsteherInnen gar nicht geteilt wurde), hat Aufstehen schon zu Beginn geschadet und viele – wenn auch zu unrecht – vermuten lassen, dass Aufstehen gar nicht anti-rassistisch und gegen die AfD eingestellt wäre.

Zweites Beispiel: Die erste „Kampagne“ von Aufstehen richtete sich gegen den höheren Rüstungsetat. Klugerweise begann man die Kampagne, nachdem (!) dieser schon beschlossen war (von der naiven, rein pazifistischen Ausrichtung der Kampagne abgesehen).

Drittes Beispiel: Als Reaktion auf die Gelbwesten in Frankreich posierte auch Sahra Wagenknecht mit einer solchen medienwirksam vor dem Kanzleramt. Aufstehen sollte auf den Zug aufspringen. Diese Idee hatte viel positive Resonanz in der Aufstehen-Basis. Es gab Diskussionen, in denen die Stärken und Schwächen und der Charakter der Gelbwesten diskutiert wurde. Und dann geschah – nichts. Weder gab es von „oben“ eine Analyse der Gelbwesten-Bewegung, noch einen Mobilisierungsplan oder den Versuch, dazu einen Basiskongress abzuhalten. So versandete alles.

An all dem zeigt sich sehr anschaulich, dass ReformistInnen wie Wagenknecht offenbar jede Fähigkeit abgeht, so etwas wie eine soziale Bewegung zu organisieren. Sobald es über den Rahmen von Vorstandssitzungen, die Fraktion und Talkshows hinausgeht, ist von politischen Fähigkeiten nichts mehr zu spüren.

Selbsttäuschung

Wagenknecht sagt im Interview: „Aufstehen wurde gegründet, um dem linken Lager neuen Schwung zu verleihen und neue Mehrheiten für die Wiederherstellung des Sozialstaats und eine friedliche Außenpolitik möglich zu machen.“ Was heißt das im Klartext? Es geht ihr darum, zusätzliche WählerInnen für die „linken Parteien“ zu gewinnen. Mittels dieser Unterstützung könnten dann Linke, SPD und Grüne den „Sozial“staat (hier nicht zufällig apostrophiert) verbessern. Wie realistisch das v.a. hinsichtlich der SPD und der Grünen ist, zeigt deren Politik seit Jahrzehnten. Die soziale Spaltung nimmt zu, der soziale „Bodensatz“ von Armen wird größer – trotz seit Jahren brummender Konjunktur und sinkender Arbeitslosigkeit. Wehe, wenn der Boom einmal vorbei ist …

V.a. aber geht es Wagenknecht nicht etwa darum, den Klassenkampf voran zu bringen. Das zeigt sich schon daran, dass die Gewerkschaften und ihre Politik gar nicht erwähnt, geschweige denn kritisiert werden, obwohl sie immer noch die größten, wichtigsten und potentiell kampfstärksten Formationen der Arbeiterklasse und der Massen sind. Letztlich läuft alles darauf hinaus, Grüne und SPD etwas nach links zu drücken und rot/rot/grüne Regierungsbündnisse zu schaffen. So soll Aufstehen nur Manövriermasse für gescheiterte Reformisten sein, anstatt eine Alternative zu ihnen.

Wie sehr es Wagenknecht nicht nur an einer politischen Perspektive mangelt, die methodisch und programmatisch über den Rahmen des Reformismus hinausgeht, sondern auch an einem realistischen Blick auf Aufstehen, zeigt ihre Äußerung, nach der Aufstehen gegenwärtig „über 150.000 registrierte(n) Mitglieder(n) und mehrere(n) Hundert aktive(n) Ortsgruppen“ verfüge. Da verwechselt sie wohl Aufstehen mit dem Schlaraffenland, wo Mitglieder und Ortsgruppen wie gebratene Tauben zufliegen würden. Vielleicht gab es 150.000 Interessierte, die ein mail an Aufstehen geschickt haben. Reale, d.h. aktive Mitglieder – keine Karteileichen – gibt es vielleicht einige Tausend, Ortsgruppen gibt es ca. 200-300. Viele Gruppen vermelden einen erheblichen Mitgliederschwund, weil sich viele Leute wieder abgewendet haben, weil Aufstehen als bundesweite Bewegung fast jede Dynamik, politische Klarheit und Perspektive vermissen lässt. Zudem ist die Mitgliedschaft ziemlich alt und außerdem oft noch Mitglied der Linkspartei, also nicht neu politisiert. Dieser Mangel an Kenntnis der Realität oder aber so viel durchaus demagogische Schönrederei disqualifiziert Sahra Wagenknecht und ihre „MitstreiterInnen“ als „Spitzen“ von Aufstehen.

Der völlig unbefriedigende Zustand ihrer Bewegung wird von der Basis aber nicht nur registriert, sie versucht auch, das Dilemma zu überwinden. Seit einigen Monaten formieren sich daher demokratische Strukturen von unten, um die „frei schwebenden“ Ortsgruppen zunächst auf Landes-, später aber auch auf Bundesebene zu vernetzen, um die Arbeit zu koordinieren und die politische Debatte endlich voran zu bringen. So gibt es im Land Brandenburg den „Rat der Gruppen“, ähnliche Entwicklungen gibt es auch in anderen Bundesländern. Auch die konkrete Arbeit der Ortsgruppen und AGs nimmt vielerorts langsam Konturen an.

Es wird sich zeigen, ob dieser Enthusiasmus und diese Ernsthaftigkeit oder aber der Frust und die Enttäuschung über den verkorksten Beginn von Aufstehen die Oberhand behalten. Insofern steht Aufstehen aktuell an einem Scheideweg, es ist offen, ob es die Kurve kriegt oder entgleist. Falls Aufstehen scheitert, hätten ReformistInnen und ihr vermeintlicher Gegenpart, die „radikale Linke“ , gemeinsam eine Chance auf Erneuerung und ein klassenkämpferisches Potential verspielt.

Die Haltung der „radikalen Linken“

Um es kurz zu sagen: es gibt in Aufstehen fast keine „radikalen Linken“, derartige Organisationen oder Teile davon schon gar nicht. All die trotzkistischen, maoistischen oder sonstigen, einem -ismus verpflichteten Rrrrrreviolutionäre halten sich davon fern. Selbst zu einer vernünftigen Analyse von Aufstehen sind sie nicht in der Lage – wie auch, wenn man nur beobachtet?

Dieser Abstentionismus ist zunächst Ausdruck des verbreiteten Sektierertums vieler linker Gruppen, es ist aber auch Folge ihrer Unfähigkeit zur Analyse von sozialen und politischen Bewegungen. Normalerweise würden (oder müssten) sich Linke immer dafür interessieren, wenn es Bewegungen und Umgruppierungen in der Linken und in der Arbeiterbewegung gibt und diese unterstützen. Warum diesmal nicht? Ganz einfach: weil sie es auch früher nicht getan haben. Auch, als 2005 die WASG entstand, die sicher weniger links war als Aufstehen, war fast die gesamte linke Szene nicht dabei – und überließ den Reformisten damit kampflos das Feld und ermöglichten es ihnen, die WASG in der Linken zu „beerdigen“.

Aber auch diejenigen, die sich damals völlig richtig in die WASG eingemischt haben – alles trotzkistische Gruppen: SAV, Linksruck, Arbeitermacht (GAM) -, halten diesmal Abstand. Als Begründung haben sie (u.a. Linke) verschiedene Argumente, darunter:

  • Aufstehen ist ein Top down-Projekt (das war die WASG aber auch);
  • Aufstehen ist reformistisch; das stimmt, doch machen das die linken Analysten nur an den Statements der Spitzen fest, als ob die Mitgliedschaft nicht auch andere Positionen und Ambitionen haben könnte;
  • Aufstehen ist v.a. eine Mittelschichtsbewegung; Blödsinn (und woher weiß man das?);
  • Aufstehen ist aufgrund der geringen Größe irrelevant; dieses Argument kam schon, bevor Aufstehen praktisch entstanden war und immerhin hat Aufstehen trotz des Versagens ihrer InitiatorInnen heute mehr Mitglieder als alle radikalen Kleingruppen zusammen;
  • Aufstehen ist rechter als die Linkspartei und dient womöglich zu deren Spaltung; die erste Einschätzung ist ganz sicher falsch, Aufstehen steht eher links von der Linken, die zweite ist zu absurd, um überhaupt darauf einzugehen.

Das letzte Argument wurde v.a. von jenen Linken gestreut, die heute in der Linkspartei mitarbeiten und tw. dort Posten innehaben: Marx21 (ex-Linksruck) und SAV. Sie fürchten jede politische Erschütterung der Linkspartei und ihrer eigenen Rolle als linker Flankendeckung des Reformismus. Bei der GAM dagegen spielt nicht Opportunismus gegenüber der Linkspartei (in der sie auch nicht mitarbeiten) eine Rolle, sondern einerseits simple Fehleinschätzungen des Charakters von Aufstehen (was von mangelnder Analysefähigkeit zeugt) und andererseits Sektierertum. Das hindert die GAM jedoch nicht, gleichzeitig aktiv in der „grünen“ Klima-Bewegung mitzumischen, die weder links noch irgendwie sozialistisch ist und auch nichts mit der Arbeiterbewegung zu tun hat (davon abgesehen, dass der ganze Klimaklamauk wissenschaftlicher Unfug ist und nur bestimmten Fraktionen des „grünen“ Kapitals dient).

Aufstehen ist nicht nur Ausdruck von wachsendem Unmut und Widerstandswillen gegen die asozialen Tendenzen des Kapitalismus, es ist auch Ausdruck der Unzufriedenheit mit und der Kritik an den „linken“ Parteien. Auch wenn aus der großen Resonanz am Anfang Dank des Versagens „oben“ fast nichts gemacht wurde, wurden trotzdem viele Menschen politisiert und aktiviert. Eine „radikale Linke“, die sich davon fern hält, ja dagegen arbeitet – wer braucht die?! Niemand! Bitter nötig ist dagegen eine radikale Erneuerung der linken Mini-Splitter-Szene, die in ihren beheizten ideologischen Glashäuschen sitzt und ihr beschränktes Biotop für die Offenbarung der Natur hält.

2 Gedanken zu „Wagenknechts Sicht auf Aufstehen“

  1. Zunaechst mal meine frage:
    Interview mit Sahra Wagenknecht zum/am 26.8.2019 in der „Berliner Zeitung“? Bisher habe ich nichts gefunden. Koennt ihr den link dazu hier weiter geben oder im Text nachreichen?

    mit lieben gruessen, willi
    Asuncion, Paraguay

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