30 Jahre Mauerfall (3/3)

Hanns Graaf

Als 1971 Staats- und Parteichef Ulbricht durch Honecker abgelöst wurde, weckte das Hoffnungen  auf Reformen und eine Liberalisierung. Tatsächlich gab es anfangs kulturell einen etwas größeren Spielraum, auch in den innerdeutschen Beziehungen gab es einige Bewegung, z.B. Reiseerleichterungen für Rentner. Grundsätzliche Reformen jedoch blieben aus.

In den 1970ern wurde die DDR international weitgehend völkerrechtlich anerkannt. Der Lebensstandard stieg, auch wenn sich der Abstand zur BRD weiter vergrößerte. Die Konsumgüterproduktion wurde etwas verbessert, verblieb jedoch auf (zu) niedrigem Niveau. Das großangelegte Wohnungsbauprogramm, das Kernstück der vom VIII. SED-Parteitag verkündeten „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“, verbesserte die Wohnverhältnisse für Millionen. Aber die sehr unproduktive Wohnungspolitik (Neubau statt Sanierung, Fehlnutzung von Wohnraum) führten zu einem immensen Ressourcenverbrauch auf Kosten der Gesamtwirtschaft.

Wirtschaftsprobleme

Anfang der 1970er erhöhte die UdSSR die Preise für Erdöl bzw. beschränkte die Liefermengen, was zu großen Problemen für die DDR-Wirtschaft führte. Die DDR produzierte zu wenig Güter, die qualitativ und preislich am Weltmarkt bestehen konnten. Um die dringend benötigten Devisen zu beschaffen, wurden immer mehr Güter zu Dumpingpreisen in den Westen exportiert, was den Warenmangel auf dem Binnenmarkt verstärkte. In den 1970ern verschlechterte sich die Zahlungsbilanz der DDR und die Verschuldung stieg. Auch die von F.J. Strauss eingefädelten Milliardenkredite zögerten die Zahlungsunfähigkeit nur hinaus.

Die DDR-Wirtschaft lebte zunehmend von der Substanz. Ersatz- und Erneuerungsinvestitionen waren zu gering. Die Altstädte, die Infrastruktur und die Fabriken waren vielfach marode. 1989/90 war das Ausmaß des Verfalls unübersehbar und wurde auch zunehmend offen artikuliert. Es war klar, dass die DDR auf sich allein gestellt außer Stande war, die über Jahrzehnte aufgehäuften Probleme zu lösen. Sicher hätte eine „renovierte“ DDR viele Verkrustungen und unproduktiven Strukturen überwinden können, doch es war unmöglich, den inzwischen großen Produktivitätsrückstand aufzuholen. Daher hätte auch das Lebensniveau nicht gehalten werden können. Damit hätte aber – bei offener Grenze – das Ausbluten der DDR durch die „Abstimmung mit den Füßen“ dramatische Ausmaße angenommen.

Was waren die Gründe des wirtschaftlichen Desasters, außer die in den beiden vorausgegangenen Teilen des Artikels schon genannten (Flucht von Millionen in den Westen, Reparationen, schwaches wirtschaftliches Umfeld RGW u.a.)?

Historisch zählte Mitteldeutschland (Sachsen, Sachsen-Anhalt) zu den am höchsten entwickelten Industrieregionen Deutschlands. Ein großer Teil des deutschen Fahrzeug- und Flugzeugbaus, des Maschinenbaus und der Chemie waren hier angesiedelt. Die Ausrichtung der DDR-Wirtschaft an den Bedürfnissen der UdSSR und die wirtschaftspolitische Weltfremdheit der SED-Führung führten jedoch dazu, dass gerade diese Filetstücke der Wirtschaft missachtet wurden. Investitionen und Ressourcen flossen v.a. in Bereiche, die nicht zu den traditionellen Stärken gehörten und wo die DDR zudem am Weltmarkt chancenlos war (Rohstoffe, Rohstoffveredelung, Schiffbau usw.). Selbst dort, wo die DDR innovativ war, gelang es nicht, die Produktion schnell auf die Bedürfnisse des Weltmarkts einzustellen (Menge, Service), so dass auch dort oft Verluste statt Gewinne entstanden. Die unflexible zentrale Planung wirkte hier als wirklicher Hemmschuh.

Ein großes Problem war der Mangel an Arbeitskräften. Doch dafür gab es keinen objektiven Grund (zumindest nicht mehr nach dem Bau der Mauer, die den Weggang von qualifizierten Arbeitskräften stark eindämmte) – es war vielmehr eine Folge des staatskapitalistischen Systems: 1. band die unerhört aufgeblähte und sich ausweitende Bürokratie hunderttausende Werktätige; allein die Stasi hatte 90.000 Hauptamtliche – fast 1% aller Berufstätigen. 2. wurden die Arbeitsproduktivität und das Engagement der Werktätigen ständig untergraben – einerseits durch die Entmachtung, Entmündigung und Gängelung durch die Bürokratie, die andererseits durch Zugeständnisse an die ArbeiterInnen, um sie zu „befrieden“, ausgeglichen wurde. Folgen davon waren Desinteresse, Schlamperei, Fehlstunden (z.B. dadurch, dass man den Betrieb verließ, um seltene Waren einzukaufen). Die Ausfallzeit pro Beschäftigten war immer größer als in der BRD. Selbst die fehlende Arbeitslosigkeit – ein Hauptargument der SED-Propaganda – war damit erkauft, hunderttausende Leute in Pseudo-Beschäftigungen mit „durchzubringen“ – auf Kosten der Gesellschaft.

V.a. ab den 1980ern war die DDR-Wirtschaft ein Fass ohne Boden. Alle Zugewinne durch Produktions- und Produktivitätssteigerungen wurden wieder aufgewogen durch die Abflüsse in unproduktive Sektoren, die Schuldentilgung, den Dumpingexport in den Westen und die enormen Aufwendungen für den Wohnungsbau und die Mikroelektronik. Gerade letztere war von zentraler Bedeutung für die moderne Industrie und eine kreative Gesellschaft. Die DDR war auf sich allein gestellt unmöglich in der Lage, hier den Anschluss ans Weltniveau zu halten. Aufgrund der Rückständigkeit und die zu geringe Kooperation im RGW hatte die DDR aber auch nicht die Möglichkeit, von den „Bruderländern“ zu partizipieren. Der westliche Weltmarkt blieb ihr weitgehend verschlossen – nicht so sehr wegen des Technologie-Embargos, sondern v.a., weil die DDR kaum weltmarktfähige Produkte hatte, die auch im Westen nachgefragt wurden. Daher rührte wesentlich die permanente Devisenknappheit der DDR.

Das Heranreifen der Krise

In den 1980ern wurde immer offensichtlicher, dass die ökonomischen Probleme und der Rückstand zum Westen größer wurden. Das Warenangebot blieb unverändert schlecht. Reisen war – selbst in das “befreundete“ Ausland – fast unmöglich und zunehmend frustrierend (Devisenmangel).

Von großer ideeller Bedeutung waren die Reformen Gorbatschows ab 1985. Die DDR-Führung stellte sich massiv dagegen und unterstrich damit ihre Unwilligkeit und Unfähigkeit, irgendwelche Veränderungen auch in der DDR zu versuchen. Nicht vergessen werden dürfen auch andere internationale Faktoren, die zeigten, dass der angeblich objektive „Siegeszug des Sozialismus“ in der Welt nicht nur nicht stattfand, sondern im Gegenteil seine internationale Position immer schlechter wurde. Revolutionäre Situationen und große Klassenkämpfe gingen verloren oder mündeten nicht in eine System-sprengende Dynamik (die 68er Bewegungen, Chile 1973, Portugiesischer April usw.). Die 1970er stellten gewissermaßen einen Kulminationspunkt dar, v.a. in Gestalt der Niederlage des US-Imperialismus in Vietnam 1974, von da ab ging es stetig bergab. Freilich war der Stalinismus mit seiner katastrophalen Volksfrontpolitik in Kooperation mit der Sozialdemokratie selbst die Hauptursache dafür, dass das Klassenbewusstsein des Proletariats immer mehr absank und revolutionäre Möglichkeiten nicht genutzt wurden.

Der Ostblock selbst bot, v.a. nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, zunehmend ein Bild der Erstarrung, was die Altmännergarden der Politbüros personifizierten. Eine markante Entwicklung war v.a. die Solidarnost-Bewegung 1981 in Polen. Anders als 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn oder 1968 in Prag konnte sie nicht niedergeschlagen werden. Jaruzelskis Militärputsch war nur noch der Versuch, einen „geordneten Übergang“ zu organisieren.

Der angeblich überlegene Sozialismus, der in Wahrheit lediglich Staatskapitalismus war, blieb gegenüber dem Westen in jeder Hinsicht immer weiter zurück. Zwar glaubte noch ein Großteil der Massen und der Arbeiterklasse – auch in der DDR – an „sozialistische Ideale“, doch weder von der offiziellen Politik noch in Gestalt einer antistalinistischen, revolutionären Opposition gab es dafür relevante Impulse.

Der Herbst 1989

Grundlegende, revolutionäre Veränderungen sind Ausdruck objektiver Widersprüche und Zuspitzungen im gesellschaftlichen Gefüge. Letztlich rebellieren die Produktivkräfte (die Arbeiterklasse wie die „technischen“ Produktivkräfte) gegen die zu engen Produktionsverhältnisse, die ihre Weiterentwicklung blockieren. Doch warum begann die „Wende“ in der DDR gerade im Herbst 1989 und nicht früher oder später?

Neben den oben geschilderten internationalen und allgemeinen Umständen gab es verschiedene „hausgemachte“ Faktoren. Dazu zählen u.a.:

  • die offensichtliche Fälschung der Kommunalwahlen im Frühjahr 1989;
  • die für Empörung sorgende Zustimmung von SED-Vizechef Krenz zum Massaker auf dem Tiananmen-Platz in Peking am 4. Juni 1989;
  • die Grenzöffnung in Ungarn, die eine reale Möglichkeit zur Republik-Flucht öffnete;
  • die „Besetzung“ der BRD-Botschaft in Prag durch Ausreisewillige und deren erzwungene Ausreise über das DDR-Territorium;
  • das Verbot der „oppositionellen“ Zeitschrift „Sputnik“;
  • die kaum kaschierten Konflikte zwischen Gorbatschow und Honecker anlässlich der Feiern zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989.

Diese u.a. Ereignisse haben den Massen gezeigt, dass das Regime total marode war und die dringend notwendige Veränderung von ihm nicht zu erwarten war. Zugleich war klar, dass die massiv anwachsende Ausreisewelle zum Kollaps der DDR führen musste. So war es kein Zufall, dass die nationale Frage sofort ins Zentrum rückte, obwohl die Öffnung der Grenze nicht absehbar war und kurzfristig eher unmöglich schien. Entgegen der wachsenden Ausreisetendenz war – v.a. zu Anfang, bis zum Mauerfall – gab es auch Millionen, die sich unter der Losung „Wir bleiben hier“ dem entgegenstellten.

Als im Herbst 1989 – zuerst in der so weltoffenen wie maroden Messestadt Leipzig – Massendemonstrationen anfingen, die dann am 4.11. in Berlin ihren Höhepunkt erlebten, dominierte zuerst die Losung „Wir sind das Volk“ – als selbstbewusstes Statement gegen die Bürokratie. Doch schnell wendete sich die Stimmung und der Slogan „Wir sind ein Volk“ wurde zur beherrschenden Losung. Dieser Wechsel zeigt an, dass die Perspektive der Bewegung sich von der „Reformierung“ der DDR zur Übernahme der Verhältnisse der BRD verschoben hatte.

Nach der Grenzöffnung war dann die Wahl zur Volkskammer am 18.3.90 von großer Bedeutung, weil diese die CDU-Regierung unter de Maiziere an die Macht brachte, die Kurs auf die Wiedervereinigung hielt, welche dann in Form des Beitritts in die BRD zu deren Konditionen am 3. Oktober 1990 stattfand. Bereits zuvor, im Juli 1990, war die „Wirtschafts- und Währungsunion“ in Kraft getreten. Die Einführung der D-Mark in Ostdeutschland hatte endgültig die Weichen dafür gestellt, dass die Staatswirtschaft in Ostdeutschland den Spielregeln des Privatkapitalismus der BRD unterworfen wurde.

Die praktische Durchsetzung der westdeutschen Wirtschaftsweise oblag der Treuhand-Anstalt. Diese war zwar schon von der Modrow-Regierung geschaffen worden – allerdings mit einem etwas anderen Auftrag: sie sollte den „weichen“ Übergang vom dominanten Staatseigentum zum Privateigentum organisieren. Die „spätere“ Treuhand hingegen privatisierte alles auf Teufel komm raus. Oft wurden Fabriken für eine symbolische Mark verscherbelt. Für diesen Crash-Kurs gab es verschiedene Gründe:

  • die ostdeutsche Konkurrenz sollte ausgeschaltet werden, damit die Westkonzerne deren Marktanteile übernehmen konnten;
  • viele Betriebe waren aufgrund ihres maroden Zustands nicht mehr sanierbar, zudem gab es keinen Markt für sie, da weltweit ohnehin erhebliche produktive Überkapazitäten bestanden;
  • das konstante Kapital (darunter v.a. die Immobilienwerte) sollte westlichen Investoren billig, ja oft nahezu umsonst zugeschanzt werden.

Die Folgen dieser Treuhandpolitik (und der vorhergehenden jahrzehntelangen Misswirtschaft hatte die Arbeiterklasse zu tragen. Die Arbeitslosigkeit stieg schlagartig in enorme Höhen, viele gut ausgebildete Fachkräfte waren gezwungen, sich im Westen einen neuen Job oder sogar eine neue Bleibe zu suchen.

Alternativen

Als zur Jahreswende 1989/90 die Runden Tische entstanden, war die soziale Protestbewegung damit „demokratisch domestiziert“. Obwohl sie durchaus auch eine wesentlich lebendigere und oft auch effizientere Demokratie darstellten als im Westen, akzeptierte man den sozialen und rechtlichen Rahmen des westdeutschen Kapitalismus – die Systemfrage wurde nicht mehr gestellt.

Hier vollendete sich gewissermaßen die Volksbewegung der Wendezeit. Diese umfasste zwar bzw. repräsentierte die Mehrheit der Bevölkerung und der Arbeiterklasse, doch sie war in ihrem Wesen keine Arbeiterbewegung. Anders als etwa 1953 oder bei Solidarnosc 1981 wurzelte die Bewegung nicht in den Betrieben und führte auch nicht zur Kontrolle der Betriebe durch die Beschäftigten. Das Fehlen dieser „ökonomischen Basis“ der Bewegung äußerte sich auf verschiedene Weise: 1. stand fast nur die Frage der Staatsstruktur (der „Demokratie“) auf der Agenda, was man an den Statements aller Bürgerbewegungen ablesen kann. 2. ging es fast nicht um ökonomische Fragen, v.a. um die Eigentumsfrage. 3. gab es keine oder kaum betriebliche oder gar überbetriebliche Strukturen, um einen allgemeinen Widerstand gegen die Privatisierungen und das Plattmachen der Betriebe zu verhindern. Es gab zwar einigen Widerstand gegen Entlassungen, Betriebsschließungen und die Treuhand, doch kaum gegen die Privatisierungen an sich. Darin spiegelt sich auch das völlig fehlende Eigentümerbewusstsein der Belegschaften der „volkseigenen“ Betriebe wider – kein Wunder, da die Beschäftigten noch weniger Einfluss auf „ihre“ Betriebe hatten als in der BRD mit der „Mitbestimmung“ und der parlamentarischen Demokratie.

Der für die meisten Beobachter überraschende Wahlsieg der „Allianz für Deutschland“, des Blocks um die CDU, am 18.3.90 offenbarte das Scheitern der oppositionellen Bürgerbewegungen (Neues Forum, Demokratie jetzt u.a.). Das war kein Wunder, denn sie hatten keine Verankerung in der Arbeiterklasse und den Betrieben, so dass ihnen jegliche ökonomische Schlagkraft abging und sie lediglich in einer kurzen Phase Straßenproteste organisieren und dominieren konnten. Die Bedeutung der nationalen Frage war ihnen unklar. Anstatt für eine Wiedervereinigung einzutreten, die soziale Umgestaltungen – also eine soziale Revolution – in beiden deutschen Staaten vorsah, begnügten sie sich mit einer Reformperspektive für ein „halbes Land“, die DDR. Ihre Programmatik bezog sich fast nur auf die politisch/staatliche Sphäre, ein Wirtschaftsprogramm hatten sie nicht. Schon gar nicht sahen sie die Arbeiterklasse als Subjekt von Veränderungen an.

Ein Beispiel dafür, dass es sehr wohl Bestrebungen gab, die vielleicht nicht unbedingt als revolutionär/sozialistisch bezeichnet werden können, die aber auf eine Stärkung der Position der Arbeiterklasse (antibürokratisch, für demokratische Selbstorganisation in den Betrieben, Arbeiterkontrolle usw.) zielten, war der Erneuerungsprozess des FDGB. Mit der Übernahme des FDGB in den westdeutschen DGB wurde diese für die reformistische Bürokratie und das Kapital gefährliche Dynamik aber sofort beendet.

Wichtig – und letztlich ausschlaggebend – für den Verlauf der Wiedervereinigung überhaupt war das Verhalten der westdeutschen Arbeiterbewegung in Gestalt von SPD und DGB. Anstatt die Wiedervereinigung bewusst damit zu verbinden, eine grundlegende Diskussion über die Strukturen des vereinigten Deutschland zu führen (Verfassung, Eigentumsfrage) hielt sich der DGB völlig raus, während Lafontaines SPD den Vereinigungsprozess verlangsamen wollte, wofür sie von den (ostdeutschen) WählerInnen abgestraft wurde. Weit schlimmer jedoch war, dass DGB und SPD überhaupt nicht versucht haben, die revolutionäre Dynamik der DDR aufzugreifen und für die Interessen aller Lohnabhängigen in Deutschland aktiv zu werden – und sei es nur für reformerische Ziele, z.B. zur Ausweitung der „Mitbestimmung“ oder der gewerkschaftlichen Rechte (Streikrecht). So erwies sich der Reformismus auch 1989/90 als untauglich, die Interessen des Proletariats zu vertreten.

Bilanz der Wiedervereinigung

Wurde das Versprechen Helmut Kohls, im Osten „blühende Landschaften“ zu schaffen, Wirklichkeit? Ja und nein. Sicher wäre es absurd zu bestreiten, dass im Osten ein wirklicher Wiederaufbau stattfand, die Städte und die Infrastruktur zeigen das oft sehr eindrucksvoll. Andererseits ist es kaum gelungen, außer einigen industriellen Kernen eine ostdeutsche Wirtschaft zu schaffen, die in puncto Produktivität und Marktmacht (Großunternehmen) auf westdeutschem Niveau wäre. Auch hinsichtlich der Angleichung der Lebensverhältnisse ist der Osten in allen Bereichen (Arbeitslosigkeit, Armut, Löhne, Arbeitszeit, Renten) hinter dem Westen zurück – 30 Jahre nach der Wende und obwohl der Lebensstandard einiger Teile der Arbeiterklasse in Westdeutschland gleichzeitig gesunken ist.

Die Bilanz des „Aufbaus Ost“ ist somit zwiespältig. Einerseits wurden Wirtschaft, Infrastruktur  und auch das Lebensniveau der Massen in Ostdeutschland gegenüber der DDR erhöht. Andererseits empfinden viele Ostdeutsche zu recht, dass sie über den Tisch gezogen und vom „Westen“ bevormundet worden sind. Sie beklagen, dass sie immer noch quasi Bürger 2. Klasse sind und dass bestimmte „Errungenschaften“ der DDR einfach unter den Teppich gekehrt wurden, anstatt sie aufzugreifen. Das Leben der Ostdeutschen ist gegenüber dem in der DDR besser, aber auch unsicherer geworden. Nur, wer diese soziale Gemengelage mitdenkt, kann auch die gegenüber dem Westen tw. anderen politischen Tendenzen (DDR-Nostalgie, stärkere Skepsis gegenüber dem System, seinen Regeln und Akteuren, Pegida, AfD usw.) verstehen – was nicht akzeptieren bedeutet, sondern im Gegenteil heißt, aus der Kenntnis der Sache heraus eine in sich konsistente und effektive Politik gegen Rechts zu entwickeln.

War die Wiedervereinigung ein Rückschritt oder ein Fortschritt? Viele Linke halten die deutsche Einheit auf kapitalistischer Grundlage für eine Konterrevolution, welche auf die „halbe Revolution“ vom Herbst 1989 gefolgt wäre. Tw. resultiert diese Auffassung daraus, dass sie die DDR als „sozialistisch“ oder zumindest als auf dem Weg dorthin ansehen. Die meisten TrotzkistInnen etwa halten die DDR für einen degenerierten Arbeiterstaat, der deshalb einen – wenn auch begrenzten – historischen Fortschritt gegenüber dem westlichen Kapitalismus dargestellt hätte. Wie wir zu zeigen versucht haben, war die DDR von Anbeginn an staatskapitalistisch. Zu keiner Zeit konnte sich ihr wirtschaftliches und soziales Regime generell positiv von dem der BRD absetzen und brach letztlich unter seinen „hausgemachten“ Problemen zusammen. Nie waren die DDR oder der Stalinismus eine historische Alternative zum (westlichen) Kapitalismus. Es war ein System, das in einer historischen Sackgasse geendet ist.

Die Wiedervereinigung brachte – allerdings unvollständig – nicht nur die Lösung der nationalen Frage, d.h. die Wiederherstellung der einheitlichen bürgerlichen deutschen Nation; sie brachte auch ein höheres Niveau auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet, in Fragen der Demokratie und der Umwelt für den Osten. Nicht zuletzt errang damit auch die ostdeutsche Arbeiterklasse wichtige demokratische Rechte, um den Klassenkampf effektiver führen zu können. Wenn dieser größere Spielraum nicht gut genutzt wird, so liegt das wesentlich am die Arbeiterklasse dominierenden Reformismus (DGB, SPD, Linkspartei). Insofern war die Wiedervereinigung ein Fortschritt im Sinne einer bürgerlich-demokratischen Revolution (in einem halben Land), der aber die sozialistische „Ausweitung“ fehlte.

Doch diese Diagnose wäre einseitig, ja falsch, wenn sie nicht auch – und vor allem – unter dem Aspekt der Epoche betrachtet wird. Spätestens mit dem Übergang zu seinem imperialistischen Stadium um 1900 begann die Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus. Diese ist, wie v.a. Lenin darlegte, eine Epoche von Krisen, Kriegen und Revolutionen. Insofern stand nicht (nur) die Frage, welche Form von Kapitalismus dominiert – „Privat“kapitalismus oder Staatskapitalismus, Demokratie oder Diktatur -, sondern die Frage der revolutionären Überwindung jeder Form von Kapitalismus. Die oppositionellen und revolutionären Bewegungen von 1989/90 waren genau wie die früherer Jahrzehnte Ausdruck dieses Prozesses. Es ist hier nicht der Platz darzulegen, warum diese Versuche letztlich alle scheiterten. Doch sie verweisen immerhin auf den objektiven Trend, sie sind Ausdruck des Marx´schen Satzes, dass “die Weltgeschichte sich immer nur lösbare Aufgaben stellt“ – leider liefert sie die Lösung nicht automatisch mit.

Die Wiedervereinigung, d.h. die Ablösung des Staatskapitalismus durch den westlichen „Privatkapitalismus“, ist somit historisch und „systemisch“ betrachtet tatsächlich eine Konterrevolution, ein strategischer Rückschritt, weil er den Übergang Richtung Kommunismus nicht beschleunigt, sondern verzögert hat, obwohl er in einigen Bereichen (Demokratie) durchaus Fortschritte mit sich brachte. Ähnlich war es in Deutschland 1918: der Sturz der Monarchie und die Etablierung der bürgerlichen Demokratie waren sicher Fortschritte, doch was eigentlich anstand, war die Lösung der Systemfrage, die Frage, welche Klasse herrscht. Mit Hilfe der SPD gelang es damals, das bürgerliche System zu retten, doch es gelang nicht, die sozialen Probleme und Widersprüche zu lösen. Diese Frage rückte dann 1933 erneut mit aller Schärfe auf die Tagesordnung. Das Ende ist bekannt. Unfähig, aus der Geschichte irgendetwas zu lernen, lehnten die Stalinisten 1945 den Sturz des Kapitalismus zugunsten seiner antifaschistisch-demokratischen Reformierung ab. Auch hier ist das Ende bekannt.

Was wäre ein korrektes Programm für den Herbst 1989 gewesen? Sturz der stalinistischen SED-Herrschaft im Osten und Sturz der Bourgeoisie im Westen! Revolutionäre Wiedervereinigung auf sozialistischer Basis und Errichtung eines Arbeiter-Räte-Systems!

Dass diese Orientierung sich in der Massenbewegung von 1989/90 nicht durchsetzte, bedarf keines Beweises, wirft jedoch die Frage auf, warum das so war. Die Antwort ist nicht schwer zu finden: es gab es in der DDR wie in der BRD keine relevante linke Kraft, die eine solche Orientierung vertreten hätte. Zugleich war der Einfluss des Reformismus im Westen wie des Stalinismus im Osten so stark, dass im Proletariat fast jede revolutionär-kommunistische Perspektive verschüttet war. Zwar stellte die Arbeiterklasse in der DDR die soziale Basis der Oppositionsbewegung im Herbst 1989, doch sie vermochte nicht, ihre Klasseninteressen, die naturgemäß über nur demokratische Forderungen hinausgehen, zu artikulieren und eigene Klassenorgane (Räte, Kontrollkomitees, Milizen, Genossenschaften usw.) zu formieren. Der für jede proletarische Revolution in letzter Instanz entscheidende Faktor, die Formierung des Proletariats zur „Klasse für sich“, fand nicht statt – Reformismus und Stalinismus hatten Jahrzehnte lang ganze Arbeit geleistet und die „revolutionäre Linke“ war nicht in der Lage, ihren schon lange degenerierten und dogmatisierten „Marxismus“ zu überwinden bzw. zu erneuern.

1989 wurde erneut eine eine revolutionäre Chance vertan – doch es werden sich neue ergeben. Aber es hängt dann davon ab, ob es eine stärkere und politisch-programmatisch auf der Höhe der Zeit befindliche revolutionäre Linke gibt, die im Sinne des Kommunismus in die Klasse hinein wirkt. Es kommt darauf an, wie es schon Trotzki richtig ausdrückte, die historische Führungskrise des Proletariats endlich zu lösen!

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