Hanns Graaf
Der jahrzehntelange Niedergang der SPD wirft die Frage auf, ob ihre Probleme vielleicht schon im 19. Jahrhundert, als sie noch im Aufsteigen war, begonnen haben? Wir haben dazu bereits das Gründungsprogramm der Sozialdemokratie in Gotha von 1875 und die Replik von Marx darauf untersucht (https://aufruhrgebiet.de/2023/12/marx-und-gotha/). Hier nun betrachten wir das Nachfolgeprogramm von 1891. Aufgrund der Kürze dieses Programms gehen wir abschnittweise auf den Gesamttext ein.
Historische Einordnung
Das „Erfurter Programm“ wurde 1891 angenommen. Es entstand nach der Aufhebung des Bismarckschen „Sozialistengesetzes“ (1878-90), das die SPD tw. in die Illegalität zwang, jedoch scheiterte. Die SPD war danach stärker als zuvor. Auf diese neue, günstigere Situation musste das neue Programm eingehen. Die Vorsicht, die unter dem Sozialistengesetz durchaus nötig war, konnte und musste nun von einem klareren Profil abgelöst werden. Zudem hatten Marx und Engels am „Gothaer Programm“ massive Kritik geübt – obwohl Marx dabei wesentliche Mängel dieses Programms nicht erkannt bzw. nicht kritisiert hatte. Zudem war Marx´ Kritik von den Führern der SPD, v.a. von W. Liebknecht, der Partei vorenthalten worden. Aber auch Engels tat lange nichts dafür, dass der Marx-Text wenigstens im Nachhinein in der SPD verbreitet wurde.
Die wesentlichen Gründe für ein neues Programm hätten allerdings 1. der Übergang des Kapitalismus zum Imperialismus und 2. die gewachsene Größe und Stärke der Arbeiterklasse und der Arbeiterbewegung und ihre größeren Möglichkeiten sein müssen. Um es vorwegzunehmen: diese beiden Aspekte spiegeln sich im Programm kaum wider.
Das Programm von Erfurt galt bis 1921, als die SPD das „Görlitzer Programm“ beschloss. D.h. 30 Jahre lang sah die SPD offenbar keinen Anlass, ihr Programm zu erneuern. Der Übergang zum Imperialismus, die Revisionismus-Debatte in der Sozialdemokratie ab 1899, die Revolutionen von 1905 und 1917 in Russland und 1918 in Deutschland, der wachsende Militarismus, die steigende Kriegsgefahr von 1914 – all das war offenbar kein Anlass, die eigene Programmatik zu erneuern. Warum das so war, wird aber sofort klar, wenn man sich das „Erfurter Programm“ anschaut.
Karl Kautsky schrieb zum „Erfurter Programm“ einen längeren Kommentar, der das Programm erläuterte und begründete. Auf diesen Text kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden.
„Das „Erfurter Programm“ der SPD von 1891 (Teil 1/2)“ weiterlesen