Marxismus und Anarchismus

Hanns Graaf

Vorbemerkung: Dieser Beitrag befasst sich mit dem problematischen Verhältnis von Anarchismus und Marxismus. Der tiefe Graben zwischen diesen beiden Strömungen der Linken und der Arbeiterbewegung, der schon seit Jahrzehnten besteht, verhindert fast jede sachliche Debatte und praktischen Kooperation zwischen ihnen. Die Reihe von Vorwürfen, Missverständnissen und Feindschaften ist unübersehbar lang, dafür sind die Beispiele einer seriösen und produktiven Zusammenarbeit eher rar. Die schon lange bestehende tiefe Krise beider Strömungen ist Teil der historischen Degeneration der Linken und der Arbeiterbewegung. Letztere kann nur überwunden werden, wenn auch die anarchistische und die „marxistische“ Linke ihre dogmatischen Verkrustungen und gegenseitigen Schuldzuschreibungen überwinden und eine Aufarbeitung beginnt, die auf theoretisch sauberer Arbeit und historische Erfahrungen verarbeitendes Herangehen beruht. Als Bezugspunkt unseres Artikels haben wir einen Beitrag des Anarchisten Daniel Guérin (1904-88) gewählt (https://anarchistischebibliothek.org/library/daniel-guerin-anarchismus-und-marxismus), weil dieser grundlegende Thesen zu unserem Thema enthält und uns daher als Ausgangspunkt gut geeignet erscheint. Zudem ist es das Anliegen Guerins, einen produktiven und kritischen Austausch zwischen Marxismus und Anarchismus zu befördern. Wir geben Guerins Text hier ungekürzt wider und fügen in ihn unsere Kommentare (kursiv gesetzt) ein. Wir gehen nicht auf jede seiner Thesen und Argumentationen ein – was nicht als automatisch als Zustimmung gewertet worden sollte -, sondern beschränken uns auf uns besonders wichtig erscheinende Aspekte.

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Die Metamorphose des Marxismus

Teil 5: Der Trotzkismus

Hanns Graaf

Die Darstellung der Entwicklung der Marxismus und der revolutionären Linken wäre unvollständig, wenn nicht darauf verwiesen würde, dass es diverse politische Richtungen und theoretisch-programmatische Ansätze gab, die mehr oder weniger alternativ oder kritisch zum „marxistischen“ Mainstream – der ab 1917 i.w. leninistisch bzw. stalinistisch geprägte war – standen. Dazu gehören u.a. die Reformer des „Prager Frühlings“, die „Titoisten“, die diversen „68er“, der Trotzkismus, die Räte-Kommunisten, Anarcho-Kommunisten und -Syndikalisten, der Euro-Kommunismus und einige stalinistische Reformer. Die Darstellung dieses unerhört verzweigten Deltas an Kritiken, Meinungen, Theorien und Strömungen würde über den Rahmen dieses Beitrags weit hinaus gehen. Wir wollen uns daher hier nur mit dem Trotzkismus befassen, weil wir meinen, dass dieser ein ernsthafter und substanzieller Ansatz zur Weiterentwicklung und „Gesundung“ des „Marxismus“ war, obwohl dieser Versuch auf halber Strecke versandete und (auch) daher weitgehend wirkungslos blieb. Trotzki hat im Unterschied zu anderen „kritischen“ Marxisten eine eigene ideelle und organisatorische Strömung begründet. Das war kein Zufall, sondern der Tatsache geschuldet, das Trotzki einer der prominentesten und wichtigsten Führer der internationalen revolutionären Linken und ab 1917 der Bolschewiki war. Er verkörperte insofern ein politisches System und eine bestimmte Praxis. V.a. deshalb, nicht nur wegen bestimmter seiner Ansichten, war er von Bedeutung.

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Wohin des Wegs?

Zur Perspektive der Freien Linken

Hanns Graaf

Es sind fast immer äußere Anstöße, welche die Linke und die Arbeiterbewegung durchschütteln und ihre politische Ausrichtung und organisatorischen Strukturen verändern. So entstand etwa die Kommunistische Bewegung einerseits als Folge der Ersten Weltkriegs und der reaktionären Politik der Sozialdemokratie und andererseits durch den Impuls der Revolution in Russland.

In jüngerer Zeit erfolgte die massenhafte Abwendung von der SPD infolge deren offen neoliberaler Wende mit der rot/grünen Schröder-Regierung und der Einführung der Hartz-Reformen. Dieser Prozess kulminierte dann 2005 in den Montagsdemos und in der Entstehung der WASG. Letztlich scheiterte die WASG dann aber, weil sie a) zwar in Opposition zur SPD stand, aber trotzdem nicht methodisch mit dem Reformismus gebrochen hatte und b), weil die Reformisten auch die WASG politisch dominierten, sie in die Arme der PDS führten und mit der LINKEN die zweite reformistische Partei in Deutschland stärkten. Der dreibeinige Gaul bekam mehr Futter.

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Für eine neue Arbeiterpartei!

Hanns Graaf

Das schwache Abschneiden der LINKEN bei der vergangenen Bundestagswahl, der sich seit Jahrzehnten verstärkende Niedergang der SPD und die Inaktivität und „Staatstreue“ der Gewerkschaften werfen die Frage auf, wie es erreicht werden kann, dass die Lohnabhängigen und die Mehrheit der Bevölkerung wieder über eine Partei verfügen, die ihre Interessen konsequent vertritt. Dazu müsste diese konsequent antikapitalistisch eingestellt sein – doch selbst ein Reformismus, der stärker auf klassenkämpferische Mobilisierung setzt, wäre ein gewisser Fortschritt. Es ist eine bittere Tatsache, dass die großen Organisationen, die sich strukturell stark auf die Arbeiterklasse stützen, die Gewerkschaften, die SPD und die LINKE, nicht bereit sind, sich gegen die Zumutungen des Systems wirklich zu wehren. Keine dieser Organisationen bewegt sich, um gegen die Teuerungswelle, die explodierenden Wohn- und Energiekosten, die zusätzlichen Milliarden für die Rüstung usw. usw. zu kämpfen. Die Misere nur zu kritisieren, wie die LINKE, ist aber noch kein Widerstand. Eine Alternative zu ihnen, etwa in Gestalt der „radikalen“ Linken“ ist nicht in Sicht. Eine starke und kämpferische Formation, die den Namen „Arbeiterpartei“ wirklich verdient, gibt es nicht.

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Mitregieren oder Opponieren?

Hannah Behrendt

Die sich verschärfende Krise der Linkspartei rückt ihr politisches Selbstverständnis, ihre Programmatik auf die Tagesordnung. Dazu zählt die Frage, ob man sich an Regierungen beteiligen soll.

Die Zahl der Wählerstimmen der LINKEN vermindert sich seit Jahren – bundesweit. Dabei war es ihr seit 1990 oft gelungen, Teil von Landesregierungen zu sein, in den Kommunen im Osten hatten und haben sie ohnedies starke Positionen. V.a. bei Arbeitern und Arbeitslosen erreichte die LINKE einen überproportionalen Stimmenanteil. Ihren Ruf als „Kümmerpartei“, welche die Lebensinteressen der ärmeren Schichten ernst nimmt, hatte sie durchaus zu recht. Natürlich war ihre Stellung v.a. im Osten stark, wo sie auch die meisten Mitglieder und das größte Umfeld hat (Arbeitslosenverband, Volkssolidarität, Mietervereine u.a.). Doch auch im Westen gelang es ihr, sich nach der Fusion mit der WASG 2007 zu stärken.

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Gehen bald die Lichter aus?

Hanns Graaf

Der Ukrainekrieg hat die Frage der Abhängigkeit Deutschlands von russischen Energieimporten auf die Tagesordnung gerückt. Anfang 2022 wurden 50% der Steinkohle, 35% des Erdöls und 58% des Erdgases aus Russland importiert. Als vor über einem Vierteljahrhundert die Energiewende (EW) hierzulande begonnen wurde, war eine ihrer Ziele, die Abhängigkeit von Energieimporten zu verkleinern. Das genaue Gegenteil ist eingetreten – ein Zeichen dafür, wie amateurhaft das Megaprojekt EW bisher durchgeführt wurde.

Besonders groß ist die Abhängigkeit bei Gas. Der grüne Wirtschaftsminister Habeck versucht aktuell krampfhaft, andere Gaslieferanten ausfindig zu machen, z.B. das reaktionäre Regime in Katar. Bislang ohne großen Erfolg. Auch die Einsparung von Gas würde entweder zu kalten Wohnungen führen oder zu immensen Ausfällen in der Industrie. Trotz der ideologischen Offensive der Kriegstreiber wie Steinmeier, Baerbock oder Merz, „für den Frieden zu frieren“, den Gürtel enger zu schnallen und der üblichen Worthülsen von „Experten“ wie Quaschning oder Kempfert (DIW), die meinen, mit dem Ausbau der Erneuerbaren Energien (EE) wären alle Probleme lösbar, sieht die Situation der deutschen Energieversorgung düster aus. Trotz jahrzehntelanger Förderung der EE beträgt deren Anteil an der Primärenergie, die Deutschland 2021 verbrauchte, gerade einmal 5,1%.

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Die Metamorphose des Marxismus

Teil 4: Der Stalinismus

Hanns Graaf

Kein anderer Faktor hat das Wesen und das Schicksal des „Marxismus“, der kommunistischen Bewegung und des „Ostblocks“ so stark beeinflusst wie der Stalinismus der UdSSR.

Das soziale und politische Regime, das mit dem Begriff „Stalinismus“ gekennzeichnet wird, entwickelte sich in Sowjetrussland in Anfängen bereits ab 1918 mit dem Beginn des Bürgerkriegs. Doch erst Ende der 1920er wurde es zu einem staatskapitalistischen System. Bis dahin kann das bolschewistische Regime als deformierter bzw. degenerierter Arbeiterstaat bezeichnet werden. Dieser war einerseits geprägt durch „historische“ Faktoren (Rückständigkeit, kleines Proletariat) und aktuelle Deformationen und Probleme (Bürgerkrieg, Hunger, Wirtschaftskrise). Andererseits waren der Zarismus gestürzt, der bürgerliche Staat zerschlagen und das Privatkapital enteignet worden. Die Arbeiterklasse hatte mittels der Sowjetorgane, der Partei und der Roten Armee die exekutive Macht in Händen.

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Die Metamorphose des Marxismus

Teil 3: Lenin und der Bolschewismus

Hanns Graaf

Die SPD war auch Vorbild und Anregerin der russischen Sozialdemokratie, die als Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SdAPR) 1898 gegründet wurde. Wesentlich für die Verbreitung des Marxismus in Russland war Georgi Plechanow, der sich stark an Kautsky orientierte. Lenin und die Bolschewiki sollten nach der Sozialdemokratie zum zweiten Faktor werden, der das Schicksal des Marxismus und der kommunistischen Bewegung weltweit prägte.

Die Konflikte in der SPD an der Wende zum 20. Jahrhundert wurden auch in Russland verfolgt, jedoch nicht tiefgründig verarbeitet. Die Klarheit vieler Einsichten Luxemburgs, v.a ihrer Kritik an Kautskys Zentrismus, erlangte kein russischer Marxist, auch nicht Lenin, der Kautsky erst 1917 wg. dessen Staatsauffassung und dann wg. seiner Ablehnung der Politik der Bolschewiki als „Renegaten“ kritisierte (und tw. unsachlich und demagogisch beschimpfte).

Die Bolschewiki (Mehrheitler) entstanden 1903 als Fraktion der SdAPR, waren aber de facto eine eigenständige Partei. Die Spaltung entzündete sich v.a. an statuarischen Fragen (Mitgliedskriterien), doch bald offenbarten sich auch programmatische Differenzen. Diese betrafen v.a. den Charakter der kommenden russischen Revolution. Die Menschewiki (Minderheitler) sahen diese aufgrund der Schwäche des Proletariats und des noch unterentwickelten kapitalistischen Sektors als bürgerlich-demokratische Revolution an, in der das liberale Bürgertum die Führung innehaben würde und eine parlamentarische Demokratie etablieren müsse. Demgegenüber betonte Lenin, dass das Bürgertum zur Führung der Revolution zu schwach und zu feige sei und somit das Proletariat die Führung übernehmen müsse. Doch auch Lenins Regierungslosung der „revolutionär-demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern“ war unklar und ließ die Frage der Klassenstruktur der nach-revolutionären Ordnung offen.

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Die Metamorphose des Marxismus

Teil 2: Marxismus und Sozialdemokratie

Hanns Graaf

Die deutsche Sozialdemokratie war – bis 1917, als der Bolschewismus und später der Stalinismus prägend wurden – das Vorbild und der einflussreichste Faktor in der internationalen Arbeiterbewegung – in zweierlei Hinsicht: 1. waren die SPD und die deutschen Gewerkschaften die am schnellsten wachsenden, stärksten und erfolgreichsten proletarischen Formationen. 2. beeinflussten sie die theoretisch-programmatische Ausrichtung der Arbeiterbewegung nachhaltig.

An der Wende zum 20. Jahrhundert war der Kapitalismus voll entwickelt: a) der Weltmarkt war etabliert, wenn auch noch v.a. als Handelsplatz, weniger als Finanz- und Technologiemarkt; b) die industrielle Großproduktion hatte eine dominante Stellung; c) die Arbeiterklasse war eine  massenhafte Klasse geworden, in einigen Ländern stellte sie bereits die Bevölkerungsmehrheit; d) das Proletariat hatte sich schon einen gewissen sozialen und politischen Bewegungsspielraum geschaffen (Parteien, Gewerkschaften, Genossenschaften, „Sozial“staat). Um die Jahrhundertwende bildete sich der Imperialismus als „modifizierter“ Kapitalismus heraus. Große Konzerne und Monopolverbände, das Finanzkapital und wachsende Aggressivität beim Kampf um die Neuaufteilung der Welt bestimmten nun das Bild. Nachdem die britische Bourgeoisie über Jahrzehnte die Welt und deren Wirtschaft dominiert hatte, drängten nun mit Amerika und Deutschland neue Hauptdarsteller auf die Bühne.

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Die Metamorphose des Marxismus

– Erster Teil –

Hanns Graaf

Vorwort

Die Geschichte des Marxismus reicht, seit Marx und Engels in den 1840ern ihre ersten publizistischen Schritte gingen, mittlerweile fast 180 Jahre zurück. In dieser Zeit hat der „Marxismus“ viele Veränderungen erlebt, schon Marx und Engels selbst veränderten ihre Auffassungen und entwickelten sie weiter, umso mehr war das bei ihren Nachfolgern der Fall.

Was die Nachfahren von Marx und Engels als „Marxismus“ vertraten, war immer eine Melange aus verschiedenen methodischen, theoretischen und programmatischen Elementen. Einerseits nahmen sie Positionen und die Methodik von Marx auf, entwickelten sie mitunter auch positiv weiter, andererseits unterschied sich ihr „Marxismus“ mitunter aber auch deutlich vom Denken der beiden Gründerväter, ja stand dazu methodisch und programmatisch oft sogar im Gegensatz zu ihnen. Angesichts dessen wundert es im Nachhinein nicht, dass Marx selbst einmal betont hat, dass er kein Marxist sei. Daraus spricht nicht nur sein Bestreben nach Abgrenzung von Menschen, Parteien, Strömungen usw., die sich – mehr oder weniger zu recht – auf ihn beriefen; es zeigt auch, dass Marx einen Horror davor hatte, als Vertreter eines kodifizierten, starren Denkgebäudes angesehen zu werden. Er lehnte es immer ab, ein „Ideologe“ zu sein, der die Welt „ummodeln“ will. Vielmehr verstand er sich als Forscher, der die Gesellschaft analysiert, ihre Widersprüche, ihre Entwicklung und ihre dynamischen Faktoren aufzeigt – um deren progressiven Elementen zum Durchbruch zu verhelfen, indem sich das Proletariat als eines historischen Subjekts der Erkenntnisse des Marxismus „bedient“ und ihn zugleich durch seine Erfahrungen bereichert und weiterentwickelt. Wenn das Proletariat sozial handelt, erwirbt es Erfahrungen, aus denen wieder neue Theorie kreiert werden kann.

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